Was ist Erotologie?

Die Psychoanalyse wird häufig auch als Erotologie bezeichnet, denn es gibt bei ihr kein eigentliches Objekt so wie die Natur- oder Geisteswissenschaften es haben. Sie ist einfach dem Eros verpflichtet, also der Liebe, dem Erotischen, kurz: allem was früher dem griechischen Gott Eros verbunden war. Dass wir heute eine Wissenschaft aus dem machen, was früher ein Gott war, ist eben moderne Selbstverständlichkeit.

Chaosliebe Der Monotheismus hat diesen Gott in zwei Aspekte aufgespalten, einen dunklen, der gleich zu Anfang von ihm abgefallen, in die Tiefe von Erde und Hölle abgestürzt ist, und einem hellen, der nur noch ‚caritas‘, verhimmlischte Liebe ist. Vor kurzen sagte ein hochrangiger christlicher Bischof: deus carítas est - er betonte das 'i' , so dass es so hölzern, so nüchtern klang, wie er es wohl verstand und wie wir es auch wohl assoziativ heraushören: der Gott ist nur noch eine caritative Einrichtung, ein Schirmherr der Kirche, der Aufsichtsratsvorsitzende des Glaubens.

Da geht es in der Erotologie schon echter, herzhafter und konkreter zu. Was die Menschen in einer Psychoanalyse erzählen ist doch wohl lebensnäher, oft deftiger, Chaosliebephantasiereicher, liebe- und lustvoller als all das, was im Katechismus steht. Dabei wird in der Erotologie der Gott ja gar nicht verleugnet, er wird nur nicht so kalt behandelt. Freilich geht es bei den Menschen, die sich lieben, die sich füreinander begeistern, die Sex miteinander haben und das Leben irgendwie - in angemessener Form - erotisiert finden, wärmer und manchmal sogar hitziger oder sogar zu hitzig zu. Dennoch wacht ein Gott über all diesem Geschehen: in der Psychoanalyse wird nicht alles Lustvolle gut geheißen, nicht jeder Spaß hat auch die nötige Reife. Ja, hinter dem meisten, was die Menschen in einer Psychoanalyse assoziativ aus sich heraussprudeln, stecken infantile oder bedeutungsmäßig verschobene (verrückte) oder allgemein krankhafte Vorstellungen und Wünsche. Erst durch Klärung ihres Zusammenhangs mit dem Wesen der jeweiligen Persönlichkeit kann sicher gestellt werden, was der wahrhafte Eros ist.

Psychoanalytisch kann man auch sagen: „Eine gute Sexualtechnik ist eine primitive Wissenschaft". Das klingt ja doch ein bisschen gewaltiger als der Ruf nach der Caritas, es klingt vielleicht nach dem, was der Chaosforscher Cramer die „Chaosliebe" nannte. Und zuudem ist in dem obigen Satz auch noch Wissenschaft dabei. Aber vielleicht liegt die Betonung noch zu sehr auf dem Wörtchen primitiv. Da sollte man nicht stehen bleiben. Außerdem muss eine Sexualtechnik überhaupt nichts mit Liebe zu tun haben. Und auch Chaosliebedas Wort Liebestechnik würde schillernd in den Ohren klingen. Es hört sich nach Trick an, nach rhetorischer Raffinesse, nach Geschicklichkeit. So, als würden ein paar Fertigkeiten ausreichen, einem so hohen Anspruch wie dem des Eros als solchem Genüge zu tun. Die Vokabel „gut" im oben zitierten Satz mag über die Problematik und das Drama der letztlichen Realität noch zusätzlich hinwegtäuschen. Denn - umgekehrt gefragt - kann eine Sexualtechnik gut sein, wenn sie mit Liebe nichts zu tun hat?

Dennoch führt uns dieser Satz Lacans dahin, dass Wissenschaft mit etwas zu tun haben muss, das den Liebes-Akt unterstellt. Die Liebe, der Eros als Handlung, als Tat, ja, als Akt. Denn ein Akt ist ein Urgeschehen, keine überlegt ausgedachte Handlung. Wenn Foucault sich mit der antiken Ars erotica beschäftigt hat, so deswegen, weil diese vorwiegend spontane Handlung war, Akt, Elementarstes. Aber vielleicht war sie nur das, zu sehr Urgeschehen, Mythos und zu wenig Wissenschaft, und hat deswegen nicht überlebt? Außerdem war sie mit Sicherheit - zumindest in der griechischen Antike - vorwiegend vom Begriff einer „männlichen Kraft" Chaosliebebeherrscht, einer Potenz, einer Urgewalt. Bei einer Potenz sind Macht und Sex schon gegenseitig gebunden, sind nicht mehr wirklich frei. Hier hat die Macht schon ihren Machthaber und der Sex seine Richtung, während Foucault in der gleichen Abhandlung von dem Ideal einer „Macht ohne Machthaber" und eines „Sexes ohne Gesetz" spricht.

Genau diese Verquickung hat S. Freud versucht mit seiner Psychoanalyse auf wissenschaftliche Weise zu klären und zu lösen, indem es um nichts anderes als um die Liebe, ihr ChaosliebeErwachsen aus dem frühesten Kindesalter, ihre Erniedrigungen, Versteckspiele und Erfüllungen ging, und vielleicht wird diese Art, sich mit dem Eros zu beschäftigen, besser überleben. Darauf werde ich aufbauen.

Soviel aber kann man schon im voraus sagen: Freud sieht die Liebe als Zusammenhalt, als Gleichgewicht, zwischen „Ichlibido und Objektlibido" an, wobei unter Libido die psychische Lust-Energie der Eros-Lebens-Triebe verstanden wird, die sich eben aufs Ich und auch auf die Objekte richten kann. Das ist endlich einmal eine klare Definition, auch wenn sie noch recht hölzern, abstrakt und nüchtern akademisch daherkommt. Gewiss, bei dieser Definition ist nicht mehr viel vom Liebes-Akt zu spüren, auch wenn die Liebes-Energie, die „Libido" (oder wäre nicht besser zu schreiben: Lieb-ido) doch d i e Kraft ist, d i e, um die es grundsätzlich geht.

Die Welt ist durch und durch erotisiert, sie ist durchdrungen von einem Liebesmagnetismus, den S. Freud also Libido nannte, und die eigentlich nur zu verstehen ist, wenn man ihr die Macht des Todes gegenüberstellt. Die Erotologie hat - wie schon erwähnt - kein Objekt, sondern kann nur erfasst werden, wenn sie einem gleichwertigen Mechanismus, Kraft, Magnetismus gegenübersteht, nämlich dem Tod, dem Thanatos (von Freud als Todestrieb benannt). Schon Sokrates sprach vom Eros als dem Kern der Seele, sprach davon, Chaosliebedass „das Sein in seinem tiefsten Wesen die erotische Werdelust selbst ist". Aber die Menschen flüchten vor dieser Erotisierung, weil sie nicht auszuhalten ist. Freud sprach hier von der Urszene, der unbewussten Teilhabe an der aggressiv Szene der elterlichen intimen Verbindung, und das sei nicht zu ertragen. Man ist darin verwickelt und doch ausgeschlossen, und so bleibt einem letztlich nur der Weg, sich darüber zu erheben, Einsicht zu nehmen aus einer gewissen Distanz, mehr Bewusstheit darüber zu bekommen.

 

 

(Anm. d. Redaktion: Die verwendeten Bilder stammen von T. Heydecker zum Thema 'Chaosliebe'.)

Gerd Riederer ist Psychoanalytiker in München. Der Name, Gerd Riederer, ist ein Pseudonym. Ich musste nicht nur meinen Namen, sondern auch Namen, Orte, Zeiten und einzelne Gegebenheiten meiner Bücher anonymisieren, weil es darin um authentische, persönliche psychotherapeutische Fallgeschichten geht, die nicht allgemein veröffentlicht werden können und sollen. Ich habe zwei Bücher geschrieben und auf meiner Website (erotologie.de) geht es hauptsächlich um das zweite dieser Bücher, dessen Inhalt und Probeseiten in der Rubrik Literatur zu finden sind.

We must be the change we wish to see.

Mahatma Ghandi

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