Analytische Psychokatharsis, persönliche Erfahrungen mit einer neuen psychotherapeutischen Methode

Seit über dreißig Jahren arbeite ich als Arzt und Psychoanalytiker. Ziemlich am Anfang meiner Tätigkeit beschäftigte ich mich auch mit dem indischen Yoga. Ich hatte mit Kirpal Singh (dem Lehrer des Surat Shabd Yoga der Jahre 1949 – 1974) einige Gespräche und begleitende Erfahrungen, die etwas außergewöhnlich waren, obwohl sie – jemandem anderen erzählt – nichts so richtig davon wiedergeben.

Ich ließ mich in die Methode dieses meditativen Verfahrens einführen, nach der man innere Erfahrungen einer Kombination von zwei Grundtrieben, Grundprinzipien des menschlichen Seins machen sollte, die auch in der Psychoanalyse Geltung haben. Es handelt sich um den oder die Wahrnehmungstriebe einerseits, die in ihrer ursprünglichen Form ein inneres „Strahlen“ darstellen und um den oder die Entäußerungstriebe, die ein inneren „Sprechen“ sind. Doch ich habe nie die sogenannte „strahlende Form des Meisters“ im Inneren wahrgenommen, wie dies bei den Indern und vielen wohl etwas mehr gefühlsorientierten westlichen Schülern der Fall war. Schon gar nicht konnte ich mit dieser Form oder etwas Ähnlichem im Inneren „sprechen“, wie es im Surat Shabd Yoga geheißen hatte. Es blieb bei einer tiefen Entspannung und der Konzentration auf die im Surat Shabd Yoga üblichen Formel-Worte (Mantren).

Erst viel später hatte ich bei der Meditation ein Erlebnis, das mich zufrieden stellte: Ich versuche es oft mit den Worten aus Goethes Faust zu beschreiben, wo er sagt: „Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil“. Ich erfuhr in der Meditation plötzlich ein bis in tiefere Schichten des Körpers hineingehendes „Rieseln“, ein Durchschaudern positiver, leicht ekstatischer Art, die mir die absolute Gewissheit seiner (Kirpals) Gegenwart, seiner vollen Präsenz (ich könnte aber auch sagen: des Unbewussten) gab. In späteren Meditationen genügte es, mich wieder an diese Erfahrung im Rahmen einer längeren Meditation zu erinnern, und ich kam auch zu der Erkenntnis, dass ich mehr als das nicht brauchte (es handelt sich im Übrigen um ein Erlebnis, das viele Menschen in ähnlicher Weise aus verschiedensten Anlässen und Erlebnissen her kennen).

Ich hatte also schon ein Jahr vor meinem Zusammentreffen mit dem Surat Shabd Yoga eine psychoanalytische Ausbildung angefangen und konnte auf diese Weise manches erreichen, was in der Meditation auf andere Weise erfahren wird. So erschien es mir zunehmend unwichtiger diese sogenannten ersten (oder unteren) „spirituellen Ebenen“ des Yoga zu durchlaufen, da sie ja letztlich für die Arbeit in der analytischen Situation und deren intellektuelle Tätigkeit eher hinderlich waren.

Solange ich gleichzeitig stets die Erfahrung dessen machen konnte, was ich später dann das Strahlt ( dieses „Durchrieseln“, die vegetative „Umschaltung“ des autogenen Trainings, der Primärprozess des Wahrnehmungstriebs) genannt habe, benötigte ich nichts anderes als die zusätzliche psychoanalytische Erkenntnis. Diese beruht ja zum wichtigsten Teil auf den sogenannten „Übertragungsdeutungen“, d. h. dem, was der Analytiker aus den auf ihn übertragenen Bedeutungen im Rahmen der Analyse heraus „deutet“, interpretiert. Diesen Teil nannte ich dann auch das Spricht, denn es wurde schließlich immer mehr zu dem, was es wohl heißt, im Inneren mit dem Lehrer in seiner dem Physischen entrückten Form zu „sprechen“.

Im Laufe von Jahren machte ich nämlich die Erfahrung, dass im Zustand tiefer Meditation und in der Nähe des Strahlt, wenn der Gedankenstrom abbricht, aber noch durch die Formel-Worte gehalten wird, sich plötzlich ein wie fremder Gedanke, Satz oder Wort einschiebt, dessen Bedeutung unschwer zu erkennen war. Es war, als hätte sich mein eigenes Sprechen zu dem Spricht dieses ganz Anderen in mir selbst umgedreht und hält mir somit eine mir sonst unbewusst gebliebene Botschaft vor Augen. Schließlich kamen noch viele weitere Schritte hinzu und ich habe angefangen dies in verschiedenen Büchern nieder zu schreiben.

Darin legte ich den gerade geschilderten Zusammenhang von Yoga (Meditation) und Psychoanalyse klar. Diese beiden Grundprinzipien oder –triebe können in der Psychoanalyse ja nicht in ihrer Primärform, in ihrem „Primärprozess“ erfahren oder verarbeitet werden, sondern nur in dem, wie und was von ihnen psychisch repräsentiert ist. Das eigentliche Primärprozessgeschehen verbleibt der analytischen Auffassung nach im „Urverdrängten“. Das ist also genau das, mit dem die Meditation anfängt.

Nunmehr braucht man nur noch zu verstehen, dass es zusätzlich zu der gerade oben erwähnten „Übertragung“ auch eine „Ur-Übertragung“ gibt und geben muss. Diese wurde im analytischen Schrifttum als Übertragung außerhalb der Analyse oder „wilde Übertragung“ beschrieben. Hier ist sie jetzt eben exakt die Erfahrung dieses Gegenübers eines absolut Anderen in einem selbst eben in Form solcher Worte oder Gedanken, die wie von woanders her zu kommen scheinen, aber letztlich nur unbewusst von uns selbst (und durch die Anwendung von Formel-Worten mitgebildet) erstellt werden.

Das Spricht und Strahlt in guter Kombinatorik bleiben für immer bestehen und drücken genau so die Gegenwart des Meditationslehrers wie die praktische Seite des psychoanalytischen Konzeptes aus, egal, von welcher Seite her man es lieber sehen will. Ich habe statt der Sanskrit-Namen (Mantren) im Yoga lateinische Formel-Worte gefunden, die auf wissenschaftliche Weise erklärt und aufgebaut sind. Dadurch entfällt die für den Yoga oder die Meditation sonst so wichtige außergewöhnliche Persönlichkeit des Lehrers.

Diese lateinischen Formel-Worte sind so aufgebaut, dass sie von jeweils verschiedenen Buchstaben aus gelesen immer wieder eine andere Bedeutung ergeben. Somit kann die menschliche Psyche sich nicht ein irgendeiner von Bewusstsein und dem Verstand beherrschten Weise an diesen Formulierungen festmachen. Sie ist gezwungen, das Unbewusste selbst aufzurufen, das eine neue Deutung, eben diese des Anderen in uns selbst, herausgeben muss. Der französische Psychoanalytiker J. Lacan hat diesen Vorgang als „linguistischen Kristall“ beschrieben, worin wieder die beiden Grundprinzipien durchklingen. Ich habe diese Methode schließlich Analytische Psychokatharsis genannt, weil sie das analytische Denken mit der Katharsis (Reinigung, Durchrieseln, Umschaltung) verbindet.

Dr. Günter von Hummel ist Arzt und Psychotherapeut, und hat das Verfahren der Analytischen Psychokatharsis in zahlreichen Kursen und Büchern veröffentlicht.


Literatur
Weiterführende Literatur:
Herzsprache. Eine Psychoanalyse des Herzens
Analytische Psychokatharsis: Eine Verbindung von Meditation und Wissenschaft
Ich liebe, also bin ich: Die Geschichte einer Erotomanie und der Versuch einer Dialektik der Liebe