Ahnenreligion, die früheste Religion

Religion beginnt mit der Erinnerung. Ein Tier erinnert sich nicht eines seiner verstorbenen Ahnen, aber das Menschsein fing mit den ersten Begräbnissen an. Man bestattete jemand, den man in der Erinnerung behielt. Ein vielleicht großer, bedeutender Ahne war somit der erste Gott, das erste als unvergesslich erachtete menschliche Wesen. All dies begann wahrscheinlich schon in der Zeit der Neandertaler, die zu recht schon als vollwertige Menschen, als homini sapientes angesehen werden und von denen man Gräber entdeckt hat.

Doch dieser nicht mehr so leicht und einfach vergessene Ahnengott wurde noch lange vor Beginn der großen Hochkulturen vor ca. 10 000 Jahren von einem Clan-Gott abgelöst. Die Menschen fingen an sich in größeren Verbänden zusammen zu finden und nicht mehr in den kleinen ursprünglichen Gruppen von ca. 8 bis 20 Individuen umher zu ziehen. Aus dem Clan wurden größere Stämme, ein kleines Volk und schon der alte Jahwe im frühzeitlichen Kanaan soll zuerst ein Wetter- und Stammesgott gewesen sein, bevor er der Gott des israelischen Volkes wurde.

Zwischenzeitlich gab es polytheistische Völker (wie wohl die Mehrzahl aller frühen Kulturen einen Vielgötterhimmel besaßen) oder es herrschte - so wie im alten Ägypten - ein Kosmotheismus vor. Und heute? Heute haben schon viele Menschen aufgehört, an einen Gott zu glauben und andere bekämpfen sich noch bis aufs Blut um die wahre Religion, obwohl diese selbst schon vollkommen in Riten und Ideologien erstarrt ist. Heute haben wir bald überhaupt keine Erinnerung dieser Art mehr, die ursprünglich zur Entwicklung der Religionen geführt hat. Wir bestatten die Menschen als Menschen oft ohne große Gefühle und Auswirkungen auf unser Gedenken oder unsere Wertschätzungen. Ohne liebevolles Zurückerinnern, ohne Würdigung.

S. Freud wollte die Entwicklung der Religion auf den Vatermord stützen. Weil die Brüderhorde, die Nachfahren, den Vater umgebracht hätten, wurde der Ermordete später aus Reue und Schuldgefühl zu einem Gott erhöht. Diese psychologische Version der Gottesentstehung hat Freud auch auf Moses, den Begründer der jüdischen Religion, anzuwenden versucht, aber bis heute hat sich diese These nicht durchgesetzt. Sie ist zu unglaubwürdig, obwohl sie generell in vieler Hinsicht psychologisch nicht unplausibel ist. Will man eine psychologische Interpretation aufrecht erhalten, müsste man nur dem Schuldkomplex auch noch einen Schamkomplex zuordnen. Denn dann wäre vieles, nicht nur die Religionsentstehung, logischer zu erklären.

Schuld- Schamkomplexe treten fast immer so kombiniert auf, dass der eine nicht ganz ohne den anderen bestehen kann. Die Freudsche Psychoanalyse orientiert sich jedoch betont am Schuldverhalten. Dabei ist es doch meistens so, dass jemand, der sich schuldig fühlt - und sei es auch unter einem äußeren ganz ungerechtfertigten Druck - diese Schuld auf andere abzuwälzen oder zu projizieren sucht und sich mit Ausreden und Alibis selbst vor sich selbst entlastet. Erst das Hinzutreten einer Schamkomponente gibt dem Schuldkomplex sein unbewusstes, vielschichtiges Gesicht. Während man schuldig ist vor dem Gesetz, vor dem Mächtigen, vor dem Wort des bedeutenden Anderen (groß geschrieben), schämt man sich vor den (klein geschriebenen) anderen seinesgleichen.

Man schämt sich seiner Minderwertigkeit, seiner vor den anderen sichtbar gewordenen Begierden, seiner angeblichen Schmutzig- und Nichtigkeit, während man sich schuldig fühlt eines Verbrechens, einer bösen Tat. Und doch hängt beides eben zusammen. Das Schuldgefühl dem Vater gegenüber, weil man ihn als Sohn von der Mutter wegdrängen wollte, geht doch einher mit der Scham vor der Mutter, die der Sohn begehrt. Dies war doch Freuds Ödipuskomplex, bei dem man die Schamkomponente meist nicht so herausgearbeitet hat. Denn so gesehen hat man Moses nicht umbringen müssen, um ihn später zu einem Gott zu erheben, es hat doch genügt, dass man sich den perversen Sexualkulten um das „Goldene Kalb" zugewandt hat und eines Tages der Scham bewusst wurde, wenn andere (aus dem gleichen Stamm) einen bei diesen Orgien entdeckten.

Wären wir nicht schuldig und müssten uns nicht schämen, wären wir nie auf die Idee gekommen, einen Gott zu erfinden. Wir hätten nie einen gebraucht. Wir hätten allerdings mehr und intensiver Menschen in liebevoller Erinnerung behalten müssen (und können müssen), und da liegt das Problem. Denn auch bei ihren Ahnen in der Frühzeit der Menschheit hat es schon Verwicklungen gegeben, wenn man nicht rein und klar gedacht, gefühlt und erinnert hat. Wenn das Wichtige fehlte. Das . . .

(Fortsetzung folgt)