Das Echo der Erinnerung, Beitrag zur Neuropsychoanalyse

In seinem Roman, „Das Echo der Erinnerung" schildert der Autor R. Powers das Schicksal eines Cappgras-Kranken. Diese - allerdings sehr seltenen - Patienten haben auf Grund einer psychoneurologischen Störung die Illusion, speziell nahe Verwandte oder Freunde seien nicht diese selbst, sondern ausgetauschte ähnliche Personen, Doppelgänger.

Anfänglich sieht es so aus, als würde in diesem Roman von Powers ein Neurowissenschaftler nahe daran sein, das Rätsel dieser Erkrankung bei dem Romanprotagonisten, der seine Schwester für eine Ersatzfigur hält, zu lösen. Denn so absurd diese Störung ist, so wenig fällt es den meisten Menschen schwer, sich eben sehr persönliche, familiäre, intime innerseelische Konflikte als Ursache vorzustellen. Gerade die Menschen, mit denen man am meisten verbandelt, mit denen man affektiv und gleichzeitig problematisch verbunden ist, kann und will man dann eben nicht wiedererkennen oder besser: nicht als die sehen, die sie sind, und zwar gerade in der Bezogenheit auf einen selbst. Aber dies wäre noch keine ausreichende wissenschaftliche Erklärung gewesen.

Dabei hatte der Autor zuerst eine Freudsche Deutung erwähnt, nämlich dass diese problematische Beziehung des Bruders zu seiner Schwester, genauso wie die der Antigone zu ihrem Bruder, vielleicht inzestuös konflikthaft ist. Solange der Bruder in Powells Roman die Krankheit nicht hatte, konnte er diesen Konflikt verbergen, aber dann, nachdem er sich bei einem Unfall eine schwerere Kopfverletzung zuzog, was sein Gehirn und seine seelischen Abwehren, seinen seelischen Schutzwall, schwächte, konnte er den Beziehungskonflikt zu seiner Schwester nicht mehr so im Verborgenen, in der Verdrängung, halten. Doch der Autor findet diese Deutung zu banal und antiquiert. Aber er findet auch keine bessere Lösung, obwohl er der Sache ganz knapp auf der Spur ist. Der Patient kann nämlich der angeblich ausgetauschten Schwester nicht in die Augen sehen. Das libidinöse STRAHLT im Gesicht seiner Schwester kann er nicht aushalten.

Die Freudsche Deutung ist also nicht ganz falsch, jedoch muss man sie nuancierter darstellen. Das libidinöse STRAHLT SPRICHT ja auch, und zwar nicht nur von einer verbotenen Liebe. Neurologisch gesehen findet eine enge, kompakte STRAHLT / SPRICHT - Kombination natürlich zuerst einmal (in der frühen Kindheit) in den zentraleren Hirnregionen statt, nicht gleich im Großhirn. Erst später entwickelt sich auch in höheren Hirnregionen eine solche stabilere Kombination (Objekt-Konstanz!). Eine Schädelverletzung aber auch ein seelisches Trauma kann die Verbindungen (limbisches System) zwischen Großhirn und zentralem Stammhirn schädigen, so dass der Betroffene wieder auf seine frühe Kombination zurückfällt (regrediert). Auf dieser Ebene bekommt der Patient wieder den Blick seiner ersten Bezugspersonen, z. B. der Mutter, zu sehen. Nun ist seine Schwester also die frühe Mutter, deren Blicke liebevoll, aber auch unsicher, zurückweisend, verwirrend waren. Erinnert das nicht an den Blick des Sahel-Menschen?

Dieser Blick, der nicht wusste, ist der andere jetzt meinesgleichen oder nicht, ist er Mensch wie ich oder noch Vormensch oder ist er sogar der Stabilere und ich der Schwächere, Verwirrtere? Er ist mein Bruder, meine Schwester und doch nicht. Er ist meinesgleichen, ja vielleicht sogar mit mir identisch (Powell schreibt dies sogar: „sie (die falsche Schwester) erinnert mich an mich"!) und doch ganz anders. Ich begegne mir selbst, aber doch völlig verändert, mein Nächster kann nur ein ausgetauscht Nächster sein, nicht er selbst. Wir müssen den Konflikt nicht nur auf der libidinös-inzestuösen Seite suchen, er kann auch auf einer aggressiv-identitätsbestimmenden Seite zu finden sein. Immerhin macht die Schwester in Powells Roman das Richtige: sie geht mit ihrem Bruder die alten Erinnerungen durch, sie spricht sehr verständnisvoll und beschützend mit ihm. Aber da der Autor um eine wirkliche neuro-psychologische Lösung nicht weiß, lässt er seinen Neurowissenschaftler schließlich verzweifeln und im Bett mit einer Krankenschwester landen. Er wusste eben nicht, wie man Analytische Psychokatharsis durch Üben hätte erlernen, die verknoteten Gedächtnisse hätte aus ihren Verzurrungen lösen und neu binden können.